Warum Reden nicht Silber und Schweigen nicht Gold ist

Photo by Amador Loureiro on Unsplasch

Photo by Amador Loureiro on Unsplasch

 

Immer wieder fällt mir auf - in meinen Coachings wie auch in meinem privaten Umfeld - dass Menschen nicht wirklich miteinander reden.

Also doch. Sie reden schon. Über das Wetter, die Politik und die lausige Bedienung im Restaurant. Aber so viele Menschen sind Weltmeister darin, um die wichtigen Themen in ihrem Leben einen grossen Bogen zu machen. Manchmal scheint es mir, als gäbe es eine geheime Abmachung dazu, dass je wichtiger das Thema, desto weniger darf es beim Namen genannt werden. Und damit meine ich nicht, dass sie mit MIR NICHT darüber reden. Das wäre ja kein Problem. Nein, sie reden mit den Menschen nicht darüber, die es betrifft.

  • Die Ehe-Frau spricht mit dem Ehe-Mann nicht über den unbefriedigenden Sex.
  • Die Tochter spricht mit ihrer krebskranken Mutter nicht über den nahenden Tod und dessen Konsequenzen.
  • Die junge Frau erzählt ihrer besten Freundin nicht vom Abort in der 7. Schwangerschafts-Woche.
  • Die Eltern reden mit ihren Kindern nicht über die eigene Familiengeschichte wie z.B. Missbrauch, Krieg, Krankheiten, Betrug, Affären usw.

Warum das so ist? Im Folgenden ein paar Überlegungen dazu.

Es ist mein hoffentlich eindringlicher Aufruf an uns alle, endlich aufzuhören Bullshit miteinander zu reden und echt zu werden miteinander. Uns allen zuliebe.

1 – Wortlosigkeit

Gerade im Bereich der Gefühle und im Speziellen der Sexualität erlebe ich immer wieder, dass eine grosse Wortlosigkeit vorhanden ist. Man hat nicht gelernt über die eigenen Gefühle zu sprechen. Besonders nicht, wenn es sich um schwierige Gefühle wie Verletzlichkeit, Scham, Ärger, Wut, Enttäuschungen usw. handelt.

Schwierig ist es für viele auch nach wie vor, über die eigene Lust oder Unlust beim Sex und die eigenen sexuellen Fantasien zu reden. Und so reden viele Menschen lieber nicht, als sich der Gefahr auszusetzen, lächerlich, uninformiert und unsicher zu wirken.

2 - Scham

Scham ist die wohl kraftvollste Art von Angst, die wir Menschen kennen. Sie schafft es, dass Menschen über Jahrzehnte hinweg schweigen über Themen und Situationen, die einen gewaltigen Einfluss auf ihr Leben haben, aber wofür sie sich schämen

Scham macht uns sprachlos, einsam und innerlich leblos. Der einzige Weg uns aus dem Käfig der Scham zu befreien, ist es, die Scham frontal zu attackieren und dazu braucht es immer auch Worte. Denn wenn wir aussprechen, wofür wir uns schämen, lösen wir uns aus dem eisernen Griff der Scham indem wir den “Befehlen der Scham” - "Schweige und zieh dich zurück!" - nicht gehorchen. Dadurch verliert die Scham ihre Kraft.

Wie oft erlebe ich in meiner Beratung Frauen, die seit Jahren todunglücklich in ihren Beziehungen sind. Aber sie reden mit ihren Partnern nicht wirklich darüber.

  • Denn sie schämen sich, dass sie anscheinend unfähig sind, eine glückliche Beziehung führen zu können.
  • Sie schämen sich, weil sie glauben, vielleicht einfach einen zu grossen Anspruch zu haben.
  • Sie schämen sich, weil sie glauben, dass sie anscheinend zu wenig gut sind für eine glückliche Beziehung.

3 – Angst vor den Konsequenzen

Ein weiterer Punkt, der Menschen dazu verleitet, nicht über die wichtigen Themen im Leben zu sprechen, ist die Angst vor den Konsequenzen.

Was würde passieren, wenn mal alles offen auf dem Tisch liegen würde?
Was würde passieren, wenn andere erfahren würde, wie es wirklich war?
Was würde passieren, wenn du erzähltest, wie es dir wirklich geht?

Redest du zum Beispiel in deiner Beziehung über die Möglichkeit einer Scheidung? Könnt ihr dieses Wort im Zusammenhang mit eurer Beziehung aussprechen oder löst das Scham und Angst bei dir aus, weil du so etwas überhaupt in Betracht ziehst? Ca. 50% aller Ehen und entsprechend viele Beziehungen ohne Trauschein gehen auseinander. Wieso also um alles in der Welt, solltet gerade ihr davon verschont bleiben? Wieso sollte das bei euch kein Thema sein? Etwa, weil ihr nicht darüber redet?

Viele Menschen reden nicht über solch schwierige Themen, weil sie glauben, dass man dieses Szenario herauf beschwört, indem man redet darüber. Oder sie reden nicht darüber, weil sie sich schämen dafür, so etwas überhaupt in Betracht zu ziehen. Das kommt einem Vertrauensbruch und Kleingläubikgeit gleich.

Doch wie sollen wir Probleme lösen können, wenn wir nicht darüber reden dürfen? Wie sollen wir gute, beziehungs- und lebensfördernde Strategien für unsere Leben entwickeln können, wenn wir die “worst case” Szenarien - die realen sowie die möglichen - nicht in die Diskussion mit einbeziehen dürfen?

Ja, es kann sein, dass es zu grossen Turbulenzen im Leben kommt, wenn man endlich offen und ehrlich über das Leben spricht. Doch auch das Schweigen hat seinen Preis. Und dieser Preis mag mit der Zeit um einiges grösser und schwerwiegender werden, als wenn man das Schweigen brechen würde.

4 - Nicht anspruchsvoll sein wollen

Viele Menschen, besonders Frauen, schweigen zu Vielem, weil sie nicht als anspruchsvoll gelten wollen. Man soll doch dankbar sein mit dem, was man hat. Man hat doch eigentlich alles. Es geht einem doch eigentlich gut.

Eigentlich.

Was ehrlicherweise so viel heisst wie, ich versuche mir mein Leben schön zu reden. Mit diesem Relikt aus einer religionsgetünchten Hierarchiegesellschaft dürfen wir endlich aufräumen. Wenn es nicht gut ist, ist es nicht gut. Punkt.

Das hat nichts mit anspruchsvoll oder undankbar sein zu tun. Sondern damit, dass Dinge für einem nicht stimmen und deshalb Klärung und Veränderung bedürfen.

Diese Annahme, dass man besser schweigen soll, anstatt “Ansprüche” zu stellen, gründet in einer grossen Selbstunsicherheit. Bin ich so viel wert, habe ich es wirklich verdient, dass es mir gut gehen kann und darf? Diese Angst wird dann oft noch verknüpft mit dem Gedanken: “ich bin ja auch nicht perfekt. Ich habe ja auch meine Macken. Wenn ich jetzt etwas kritisiere am Anderen, wird er sicher sofort auf meine Fehler hinweisen. Und er hat ja wahrscheinlich auch recht. Wahrscheinlich bin eher ich das Problem. Es ist ja alles gar nicht so schlimm. Ach, komm. Lassen wir es. Geht schon irgendwie weiter.”

5 - Einhalten des Gruppen-Kodex

Jede Gruppe von Menschen hat ihren ungeschriebenen Kodex. Der reicht von der Art der akzeptierten Kleidung, zu den Glaubenssätzen über Geld und Politik, bis hin dazu, wie und ob man über gewisse Themen spricht. Ja, nicht alle Themen gehören zum sicheren Terrain. Denn jede Gruppe, ob Familie, Sportverein, Arbeitsteam oder Kirchengemeinde hat ihre Tabus.

Wenn du über XY sprichst, stellst du uns bloss und blamierst uns.
Wenn du diesen Gedanken auch nur schon in Betracht ziehst, bist du eine Verräterin der guten Sache.
Wenn du diese Fragen stellst, bist du eine Ketzerin, die zu wenig Glauben hat.
Wenn du diese Situation noch einmal erwähnst, hast du unser Vertrauen missbraucht.
So EINE bist DU also!!!

Und so sind diese ungeschriebenen Gruppen-Kodexe mächtige Konstrukte, welche man nicht so einfach missachtet. Denn hier geht es um Ehre. Loyaliät. Zugehörigkeit.

Und wir alle wollen dazugehören. Wir alle wollen geliebt sein. Und dafür sind wir bereit auch einen sehr hohen Preis zu bezahlen.

Erkennst du dich in diesen Punkten?

Dann möchte ich dir Mut machen, anzufangen zu reden. Ja, du wirst dich dabei immer und immer wieder unglaublich verletzlich fühlen. Doch wenn du nicht redest über das, was dich wirklich bewegt, dann kann es sein, dass der Preis, den du für dein Schweigen bezahlst, deine Freude, Lebendigkeit und Gesundheit ist.

Jedes Thema über das man nicht offen, ehrlich und differenziert reden darf, entzieht uns Menschen etwas Leben(sraum). Jedes Tabu bedroht unsere Grundlag für starke, auferbauende und tragende Beziehungen.

Denn zu authentischem Mensch-Sein gehören alle Facetten des Lebens - die schönen sowie die schwierigen wie etwas Verlust, Ängste, Unsicherheiten, Traumas, geplatzte Träume, Schwachheit, Überforderung, Misserfolg, Enttäuschung. Wir können das eine nicht ohne das andere haben.

Das ist Menschlichkeit - uns selbst und anderen gegenüber!